Ich hatte in vorangegangenen Postings zum Thema „Putins Angriffskrieg“ bereits versucht, den Nutzen und Beitrag verschiedener Anwendungen modernen Innovationsmanagements zu demonstrieren, und anhand dessen die Kernfunktion des Innovationsmanagements auszuüben: nämlich gangbare Alternativen aufzuzeigen, für den Fall, dass man mit der aktuellen Ausgestaltung des Status-Quo unzufrieden ist.
So hatten wir bereits gesehen, wie eine gemeinsame Ideenfindung funktionieren kann (viele der Ideen auf der von mir eingerichteten Seite https://russia-sanctions.eu sind mittlerweile umgesetzt, wobei dies allerdings unabhängig von der Seite geschehen sein dürfte.) Außerdem hatten wir bereits eine strategische Gesamtanalyse durchgeführt https://www.qreativraum.de/blog/strategie/putin-fuehlt-sich-im-recht-eine-strategische-analyse/, und mit TRIZ https://www.qreativraum.de/blog/kreativitaet/triz-and-the-ukraine-war/ konkrete und sofort anwendbare Ideen aufgezeigt, wie die Ukraine ihre Verteidigungsposition entscheidend verbessern könnte.
Nun, ich bin mit der aktuellen Gesamtsituation immer noch nicht einverstanden. Daher werden wir heute eine weitere Anwendung des Innovationsmanagements ausprobieren, wobei es diesmal um das Werkzeug „Zukunftsmanagement“ gehen soll (manchmal auch als „Foresight“ bezeichnet).
Foresight ist -nach meinem eigenen Definitionsangebot- der wissenschaftlich fundierte und systematische Versuch, sichtbare starke und schwache, jedenfalls aber erkennbare Signale aufzunehmen, sie zu analysieren, möglicherweise in den Signalen verborgene Muster zu interpretieren und die Erkenntnisse daraus in den eigenen Entscheidungsraum zu integrieren, statt die Signale einfach zu ignorieren (wie es leider in der Praxis vielfach noch geschieht). Wie am Beispiel TRIZ gezeigt werden kann, sind es auch manchmal Signale und Erkenntnisse aus der Vergangenheit, die entscheidende Handlungsoptionen für die Zukunft in sich tragen können. Hier ist insbesondere die TRIZ-Anwendung „Directed Evolution“ nach Zusman und Zlotin zu erwähnen, in deutscher Übersetzung von Christian Thurnes.
Suchen wir also mal nach Signalen und tragen ohne Mühe folgende Situationsbeschreibung zusammen:
- Aggressionskrieg mit offen expansiver Motivation,
- Klar kommunizierte Zielsetzung des Aggressors einer dauerhaft angelegten Unterdrückung des Angegriffenen,
- (verhältnismäßige) Ruhe in der Heimat des Aggressors,
- Allumfassende Propaganda und vollständige Gleichschaltung der Medien,
- Absolute Diktatur nach innen; Gedanken- und bedenkenloses Durchwinken und Abnicken von Anordnungen von oben durch die angeblich „zuständigen Gremien“,
- Gewaltherrschaft nach innen, offene Ausübung nahezu grenzenlosen Zwangs,
- Gewaltsame und auch vor Mord nicht zurückschreckende Unterdrückung jeder Opposition,
- Potenzielle Kritiker müssen um ihr Leben fürchten oder sitzen in Lagerhaft,
- Noch nicht einmal ansatzweises Verbergen von im Ausland begangenen Kapitalverbrechen,
- Längerer Aufbau einer Kette von (zumindest begrenzteren) Vorläuferaggressionen über Jahre hinweg,
- Gefühl militärischer Überlegenheit des Aggressors,
- Wahrnehmung von Problemen bzw. Schwächephase des Angegriffenen,
- Bereitschaft zu unbegrenzt skrupellosem Vorgehen,
- Bewusste Überschreitung des Point-of-no-Return, um die Aggression für alle erkenntlich unumkehrbar zu machen,
- Unumkehrbares Abbrechen aller zivilisatorischen Brücken zum Rest der Welt.
Nun dürfte allen klar sein: dies ist natürlich eine Beschreibung der Situation von 1941, kurz nach Beginn von Nazideutschlands Überfall auf die Sowjetunion. Perplex reibt man sich die Augen: Hat sich Putin da etwa aus demselben Rezeptbuch bedient? Das wirklich Interessante aber kommt, wenn wir gedanklich wieder in die Jetztzeit reisen und uns fragen, welche Erkenntnis sich (möglicherweise) aus dieser fast schon perversen Duplizität ableiten lässt. 1941 wütete der Krieg in Europa schon eine lange Zeit. Im Rückblick wissen wir jedoch, dass die weitaus allermeisten Opfer ihr schlimmes Schicksal da erst noch vor sich hatten.
Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren Ansatz einschieben, weil er dieses Vorgehen eindrucksvoll unterstützt, nämlich die Generationen-Archetypen-Theorie von Darrell Mann in seinem Buch „TrenDNA“ von 2009 (deutsche Übersetzung von Viktoria Zinner, derzeit nicht lieferbar, eBook angefragt).
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Art und Weise, wie Menschen nun einmal denken und handeln, ist über Jahrhunderte hinweg gewissen mehr oder weniger unveränderlichen Regeln und Mustern unterworfen. Darrell Manns Theorie basiert auf der Annahme, dass ein ganz wesentliches Muster darin besteht, wie jede neue Generation auf geradezu charakteristische Weise mit der jeweiligen Vorläufergeneration bricht und abrechnet, wobei diese natürlich im entsprechenden Lebensalter dasselbe mit der Generation davor gemacht hat, und so weiter. Nun ergaben Darrell Manns Recherchen und Analysen über einige Jahrhunderte zurück, dass dieses Generationenspiel vier verschiedene Archetypen aufweist, die im Zeitverlauf aufeinander folgen. Die fünfte Generation aber entspricht in ihrem Denken und Handeln fast genau wieder dem ersten Archetyp, und der Reigen kann von vorn beginnen. Wenn man für jede Generation eine „Regierungszeit“ von etwa 20 Jahren annimmt, ergibt sich auf diese Weise insgesamt ein zyklisches Muster über jeweils 4×20, also 80 Jahre hinweg. Und auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt, so wiederholt sich doch offensichtlich alle 80 Jahre dieses charakteristische Muster, wie durch Vorgängergenerationen in ihrer Denkweise geprägte neue Generationen die Welt wahrnehmen und darin handeln. So die Theorie. Wenn wir vom Jahr 2022 aber 80 Jahre in die Vergangenheit gehen, dann sind wir im Jahr 1942. Die beiden Zeitperioden 1940er und 2020er Jahre wären also auch nach dieser Theorie vergleichbar, weil die Akteure jeweils eine ähnliche Sozialisierungsgeschichte hätten.
Lassen wir uns also gedanklich wieder ins Jahr 1941 zurückreisen. Mit dem Wissen von heute: zu welchen Mitteln könnten wir (als Alliierte) greifen, welche -auch unerhörten- Maßnahmen müssten wir treffen, um Hitler JETZT zu stoppen, also im Sommer 1941? Denn alles was dazu an Ideen einfällt, könnte vielleicht auch gegen Putin verfangen, wenn das oben Gesagte stimmt. Spielen wir es also kurz einmal durch.
Wäre es möglich, Hitler und mit ihm die entscheidenden Machtzentren Naziregime mit einem gezielten, präzisen Luftangriff oder einer Kommandoaktion auszuschalten? – 1941 keine Chance.
Können wir mit Hitler an frühere Verhandlungen anknüpfen? Weitgehend aussichtslos, der Mann hat -wie oben beschrieben- alle Brücken zu uns abgebrochen.
Wirtschafts- und Finanzsanktionen? Wir sind immer versucht, unseren eigenen Maßstab anzulegen. Hier wird doch aber bereits ein Krieg geführt, in dem der Aggressor bewusst entschieden hat und also billigend in Kauf nimmt, dass auch die eigene Bevölkerung Schäden an Leben und Gesundheit erleidet. Sanktionen, deren Auswirkung sich auf den Verlust von einigen Prozenten Verlust der Wirtschaftsleistung begrenzt, werden da ganz sicherlich keine Wende herbeiführen.
Was wäre, wenn die freie Welt Hitler etwas anbieten könnte, wozu er, selbst er!, einfach nicht nein sagen kann? Das müsste schon ein monströses Angebot sein, weitab von allen roten Linien. Aber wir wissen, was auf dem Spiel steht. Denken wir also kurz das Undenkbare, immer noch im Jahr 1941: Würde ihm beispielsweise das Angebot gemacht, dass er seine bisherige Beute (Österreich, Sudetenland, vielleicht sogar Polen) behalten darf, seine bisherigen Verbrechen also final und unwiderruflich legitimiert würden, wenn er dafür nur sofort den Krieg an allen Fronten einstellt und verspricht, auch künftig Ruhe zu geben. Könnte das ein Lösungsansatz sein? Wir wissen es nicht genau, auszuschließen wäre es zunächst nicht. Vielleicht also tatsächlich ein gangbarer Weg zu kurzfristigem Frieden? Jedoch, wie blöde müsste die Welt sein, sich auf ein Friedensversprechen zu verlassen von jemandem, der sich bereits als skrupelloser Aggressor erwiesen und alle Brücken in die Zivilisation hinter sich abgebrochen hat? Der Rückfall in die Aggression bei erster sich bietender Gelegenheit wäre nicht nur wahrscheinlich, sondern absolut sicher. Bei so einem Deal würde die freie Welt sofort einen unendlich hohen Preis zahlen und könnte doch selbst mittelfristig nichts gewinnen.
Also doch Putsch oder Attentat von innen heraus? 1941 kaum realistisch. Kaum offene Opposition im Land, und wenn, dann jedenfalls nicht ausreichend schlagkräftig organisiert.
Sanktionen, die zu unmittelbaren harten Einschnitten im Alltagsleben der Gesamtbevölkerung führen, könnten vielleicht etwas erreichen, wenn die Bevölkerung nicht umhinkäme, den Querschluss zur Verantwortung des Regimes zu ziehen. Allerdings fällt mir dazu momentan nichts ein, was unmittelbar infrage kommen und nicht gleichzeitig als kriegerischer Akt gewertet werden könnte.
Immerhin, die Eliten könnten sehr viel stärker zum Einsatz gebracht werden. Vorbilder, Idole, von denen bekannt ist, dass sie auch im Nazideutschland im Krieg weiterhin aktive Anhänger haben. Beispielsweise ins Ausland geflohene Schriftsteller und Künstler, die dort alle einzeln vor sich hin verbittern, aber daheim eben doch noch (und wenn auch heimliche) Anhänger haben. Der Papst sitzt zwar im Vatikan und ist umzingelt vom faschistischen Italien, könnte aber schon eine entscheidende Stimme für Vernunft und Menschlichkeit sein, die in Deutschland zweifellos gehört würde. Und was ist eigentlich mit den Millionen Menschen in Amerika, deren deutsche Wurzeln noch nicht ganz in Vergessenheit geraten sind, die vielleicht auch noch ganz passabel deutsch sprechen, und durchaus auch ihre Stimme erheben könnten, würde man sie nur geeignet dazu auffordern.
Wirklich „neutrale“ Staaten kann es in einem solchen Konflikt eigentlich nicht geben. Auch die Schweiz könnte insoweit sehr viel stärker in die Pflicht genommen werden, sich zumindest diplomatisch klarer zu positionieren. Sie wäre natürlich nicht zu einem wirklich erfolgversprechenden oder sinnvollen aktiven militärischen Eingreifen in der Lage. Sie sollte als unmittelbares Nachbarland aber auch nicht „bewusst wegschauen“, sondern das wenige was sie tun kann, wenigstens auch tun.
Das Gedankenexperiment „1941/2022“ könnte noch sehr viel mehr Ideen produzieren und auf ihre Anwendbarkeit bzw. Erfolgspotenziale prüfen helfen. Ein Zwischenfazit wäre die Empfehlung:
- Ende der Diskussion um weitere Sanktionen mit/ohne Energiesektor (sinnlos),
- Eliten nutzen, soweit erreichbar (Schauspieler, Musiker, Künstler, …),
- Russinnen und Russen im Ausland als Multiplikatoren für die Wahrheit einsetzen,
- Orthodoxe Geistliche, Bischöfe, Metropoliten aus einer traditionell staatsnahen „Symphonia“ für eine Rolle als Mahner für die Menschlichkeit gewinnen,
- „Neutrale“ Staaten in die Verantwortung bringen – hier denkt man natürlich zuallererst an China, aber auch Indien könnte aufgrund alter Sowjetverbindungen interessant sein.
Die bekannteste Aufgabe von „Foresight“, so wie es ja schon im Namen steht, ist der Blick in die Zukunft. Bzw. besser gesagt, die Analyse und Auswertung von messbaren Signalen, denen ein Einfluss für die Zukunft unterstellt werden kann. Eines der praktisch am häufigsten eingesetzten Werkzeuge zur Analyse solcher Signale und vor allem auch zur Erzeugung in sich konsistenter Zukunftsbilder ist die Szenariotechnik.
Das Ziel Putins, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine faktisch zu beenden, wenigstens der Teile mit russischer Bevölkerungsmehrheit, und diese der Kontrolle Moskaus zu unterstellen, ist bekannt. Ich glaube auch tatsächlich, dass dieses kommunizierte Ziel „echt“ ist. Noch nicht ganz klar ist hingegen, wie Putin dieses Ziel tatsächlich langfristig umsetzen und absichern will. Wie also die nächste Phase des Krieges in seiner Gesamtstrategie aussehen soll.
Bisher wurden in den Medien vorwiegend vier Szenarien für die zukünftige Entwicklung diskutiert:
- Die Installation einer Marionettenregierung von Putins Gnaden (egal, ob die Marionette Janukowitsch heißt oder anders), sowie die Ausstattung derselben mit einem Macht- und Unterdrückungsapparat nach russischem oder belarussischem Vorbild,
- Die dauerhafte Einrichtung einer militärischen Besetzung unter kontinuierlichen Zwangs- und Gewaltmaßnahmen gegen jegliche Fortsetzung des Widerstands,
- Die Ausschaltung Putins durch patriotisch und langfristig denkende Kräfte aus dem inneren oder äußeren russischen Machtzirkel, und Einleitung einer Verhandlungslösung.
- Die massenhafte Liquidierung aller ukrainischen Eliten, um den in diesen Kreisen herrschenden Freiheitswillen wie mit der Glühzange aus dem Volk herauszureißen.
Nach meinem Befund sind diese vier Szenarien alle gleichermaßen unwahrscheinlich. Womöglich war das erste Szenario zu Kriegsbeginn tatsächlich favorisiert. Spätestens die Intensität und Ausdauer des Widerstands aus der Mitte des ukrainischen Volkes haben diese Option aber mittlerweile dauerhaft vom Tisch genommen. Denn die Marionette würde sich nicht lange halten können. Die zweite Option wäre für die Ukraine ein Alptraum, noch viel mehr aber für Russland selbst. Würde es doch zu einer dauerhaft schwärenden Wunde führen, einem „russischen Gaza-Streifen“ oder einem Tschetschenien in XXL-Ausmaßen. Die dritte Option hatten wir bereits durch die Analogieanalyse verworfen. Das vierte Szenario dürfte eher als Propaganda, in diesem Fall der ukrainischen Seite, einzustufen sein. Denn faktisch käme dies beinahe einem Genozid nahe. Was für Russlands Ziele einerseits keinen Sinn machen würde, andererseits aber auch viel billiger zu erreichen gewesen wäre, wenn man es denn wirklich gewollt hätte.
Ich persönlich lege mich auf die Prognose fest, dass Putin für die nächste Kriegsphase plant, zu exakt demselben Vorgehensmuster zu greifen, was schon sein gesamtes Handeln über die letzten Jahrzehnte bestimmt hat. Nämlich der massenhafte und flächendeckende Einsatz von Korruption. Aus Putins Sicht hat die Ukraine sich genau für dieses Konzept in der Vergangenheit ja bereits als durchaus anfällig erwiesen.
Ich prognostiziere daher, dass es nach einem (realistischerweise leider kaum vermeidbaren) militärischen Sieg Russlands zu einer Anwerbung bereits jetzt bekannter und mehr oder weniger herausragender ukrainischer Personen als neue Führungskader kommen wird. Diese werden mit dem Versprechen von Macht und Geld und Privilegien, am besten alles drei unbegrenzt, zu Moskaus neuen Statthaltern, wobei es eigentlich gleichgültig ist, ob in diesem Modell die Ukraine zu einem „selbständigen“ Belarus 2.0 wird, oder ob man sie gleich ganz in die russische Föderation eingliedert. Diese „neuen ukrainischen Führer“ werden flächendeckend installiert, auf Ebene der Ortschaften, Provinzen und der Zentralregierung. Begleitet wird die Aktion unbedingt von einem massivsten Einsatz des Propagandaapparats. Zu diesem gehört auch die Umstellung des bisherigen Bombardements mit Sprengstoff hin zu einem Bombardement mit Wiederaufbau-Geschenken sowie, selbstverständlich, „Güte“, „wohlwollender und mitfühlender Führung“ und „unverbrüchlicher praktischer Solidarität des russischen Brudervolks“. Nicht unwahrscheinlich, dass für diese propagandistische Mission Russland selbst weit ausgeblutet werden wird, um zumindest kurzzeitig eine Illusion zu projizieren, wie viel besser es der Ukraine -dank Russland! Dank der selbstlosen russischen Befreiung unter so schrecklichen eigenen Opfern!- doch jetzt geht: Seht selbst! Ich wette, wenn es denn überhaupt noch einen Plan Putins gibt: das ist er.
Was wäre dann aber jetzt zu tun, von der ukrainischen Führung, von der freien Welt? Die Ukraine hat durch ihren bisherigen Widerstand im Krieg Unglaubliches geleistet. Sie hat das Maximum von dem erreicht, was sie erreichen konnte. Nein, sogar viel mehr noch, als die Meisten überhaupt für möglich gehalten hätten. Putin hat allerdings umgekehrt unmissverständlich gezeigt, dass er für einen erfolgreichen Abschluss der aktuellen Kriegsphase, nämlich gewaltsame militärische Unterwerfung, keinerlei Grenzen kennt. Diese militärische Phase offenen Krieges weiter fortführen zu wollen, ist ein Unterfangen, für das ich der Ukraine zwar meinen Respekt und meine Solidarität nicht versagen kann. Indes, der Verstand sagt, ab jetzt wird weiteres Gemetzel nur mehr zum sinnlosen Märtyrertum. Auch weitere Waffenlieferungen durch die Regierungen des Westens sind als Impuls deren menschlicher Solidarität zwar ein gutes, starkes Signal. Aber für den weiteren Verlauf des Krieges wird es leider wenig bis gar keinen Einfluss haben, wie viele russische Soldaten in der laufenden militärischen Phase noch ums Leben kommen. So schwer es mir auch fällt zu sagen, aber der Verstand gebietet, vor der Gewalt zu weichen; zumindest lokal, zumindest temporär. Niemand auf der Welt braucht das zusätzliche Zeichen, die Stadt Kiew und weitere jetzt noch in einen völlig sinnlosen Untergang bomben zu lassen. Allerdings, stellte man mich selbst vor die Wahl, mich entweder versklaven zu lassen oder im Kampf dagegen zu sterben, wählte ich wohl auch das Letztere.
Meine Prognose ist, dass Russland in der nächsten Phase eine korrupte Schicht in der Ukraine aufbauen will, begleitet von „massiven Wohltaten“. Im Vergleich zu dem, was die Menschen in der Ukraine aktuell zu erleiden haben, klingt das erst einmal nicht so schlecht. Die Frage ist, mit welchem strategischen Verhalten kann für diese Konstellation eine insgesamt günstige, sachdienliche Ausgangsposition erreicht werden. Nämlich für das klar daliegende, aber hier nun erstmals ausgesprochene Ziel, der Ukraine nach möglichst kurzer Beugung unter die brutale Gewalt so schnell wie möglich wieder zu einer selbstbestimmten, freien Existenz zurück zu verhelfen. Ich denke, die Galionsfiguren des ukrainischen Widerstands können diesem Ziel durch einen Märtyrertod, oder noch schlimmer, als gequälte Opfer von Schauprozessen, wenig nützen. Wäre nicht ein Selenskyj als Anführer und Gesicht einer Freien Ukraine im Exil, quasi als ein ukrainischer Nachfahre von Charles de Gaulle in London während der Nazibesetzung Frankreichs, viel eher ein unüberhörbares Zeichen des fortbestehenden Widerstands und der Hoffnung aller Ukrainerinnen und Ukrainer? Sorgfältig sollte das Aufnahmeland für dieses Exil ausgewählt werden. Allen Ländern im Westen sicherlich eine Ehre, wäre das wieder nur eine Steilvorlage für die russische Propaganda. Georgien könnte ich mir hingegen gut vorstellen. Oder Moldau.
Wenn auch die prognostizierte Korruptionsschicht mitsamt zugehörigem Unterdrückungsapparat kurzfristig ins Laufen kommen sollte: ich bin sicher, der Geist der Freiheit ist in der Ukraine für immer aus der Flasche. Und wenn Russlands Führung meinen sollte, sie könne dies durch fortgesetzten Druck verhindern, dann wird sie daran selbst untergehen. Dies, und damit schließe ich dieses Kapitel über den strategischen Einsatz von Foresight-Anwendungen, wäre doch immerhin auch ein Muster und eine Konstante in der russischen Politik: Mit aller Macht und Härte auf ein bestimmtes Ziel hinzuarbeiten – und gerade dadurch das genaue Gegenteil zu erreichen.
Bert Miecznik, 12.03.2022 (aktualisiert am 19.03.2022)
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