agileTRIZ für schwierigere Probleme


Nachdem bereits die agilen Vorgehensweisen für einfachere und komplexere Probleme besprochen wurden wollen wir in diesem Beitrag agileTRIZ für schwierigere Probleme vorstellen. Auch bei den schwierigeren Problemstellungen muss zuerst der Frage nachgegangen werden: „Was sind schwierigere Probleme?“ Wie erkennt man „schwierigere Problemstellungen?“

„Schwierigere Probleme“ sind dadurch gekennzeichnet, dass keine klar umrissene Ausgangslage vorliegt und man muss deshalb mehr Arbeit in die Problemanalyse investieren.

Das Vorgehen erfolgt in 7 Schritten:

  1. Problemanalyse: Formulierung des Aufgabenmodells aus zwei Komponenten, die in Interaktion sind und ein Konfliktpaar bilden.
  2. Systemanalyse und Suchfeld: Abgrenzung des Suchfeldes für zulässige Lösungen und finale Formulierung der Problemstellung
  3. Technischer Widerspruch: Formulierung des technischen Widerspruchs für das Konfliktpaar
  4. Ideales Endresultat: Formulierung des Idealen Endresultats für den Technischen Widerspruch
  5. Physikalischer Widerspruch: Formulierung des Physikalischen Widerspruchs
  6. Lösungssuche: Lösen des Physikalischen Widerspruchs mit den Separationsprinzipien und den zugehörigen innovativen Prinzipien
  7. Lösungskontrolle und -auswahl

An einem konkreten Beispiel wird nun das Vorgehen besprochen:

Schritt 1: Problemanalyse


Klärung der Ausgangslage, der Problemstellung und der Zielsetzung. Formulierung des Aufgabenmodells aus zwei Komponenten, die in Interaktion sind und ein Konfliktpaar bilden.

Ausgangssituation

Die Leistungsanforderungen an Pkw-Radlager steigen enorm. Es ist zum einen die Forderung nach einer CO2-Reduktion aber gleichzeitig steigen auch die Ansprüche an die Dichtheit des Radlagersystems. CO2-Reduktion bedeutet Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs und demzufolge Reduzierung von Reibungsverlusten, die im Wälzlager (Wälz- und Schmierstoffreibung) aber insbesondere durch die berührende Dichtung als Dichtungsreibung entstehen. Da die Dichtungsreibung eine Größenordnung höher ist als die Reibung im Radlager selbst betrachten wir zuerst das Dichtsystem. Aktuelle Dichtungen können die neuen Anforderungen nicht erfüllen. Die Systemgrenze lassen wir offen, Anpassungen am Radlager sind demzufolge zulässig.

Problemstellung

Die Dichtfunktion darf nicht verschlechtert werden. Die Anforderungen an die Dichtungsreibung steigen und es sind deutliche Reduzierungen der Reibleistung zu ermöglichen.

Zielsetzung

Entwickeln von Dichtungskonzepten, die den Leistungsanforderungen gerecht werden können.

Komponenten System

  1. Encoder
  2. Laufringblech
  3. Axiallippe
  4. Radiallippe
  5. Schutzlippe
  6. Versteifungsblech
  7. Gummierter Dichtsitz
  8. Fett

Komponenten Super-System

  1. Außenring
  2. Innenring
Prinzipskizze

Schritt 2: Systemanalyse und Suchfeld


Definition der einzelnen Systemkomponenten und Analyse ihrer Funktionen und Eigenschaften.

SystemkomponentePositive (nützliche) Funktionen und EigenschaftenNegative (schädliche) Funktionen und Eigenschaften
Laufringblech(+) stützt Encoder(-) benötigt Bauraum
Axiallippe(+) dichtet ab(-) reibt gegen Laufringblech
Radiallippe(+) dichtet ab(-) reibt gegen Laufringblech
Schutzlippe(+) schützt(-) reibt gegen Innenring
Membrane(+) erzeugt Anpresskraft(-) erzeugt Reibungserhöhung
Versteifungsblech(+) stützt Dichtlippen(-) benötigt Bauraum
Gummierter Dichtsitz(+) schützt(-) benötigt Bauraum
Fett(+) schützt vor Schmutzeintritt(-) erzeugt Reibung

Abgrenzung des Suchfeldes für zulässige Lösungen und finale Formulierung der Problemstellung.

SystemSuchfeld für zulässige Lösungen
DichtsystemNeuartiges Dichtsystem mit gleicher Dichtwirkung und verminderter Reibung

Formulierung der Problemstellung: Konzipieren eines neuartigen Dichtsystems für Radlager, welches

  • die Dichtwirkung des bestehenden Systems erhält und
  • die Reibung deutlich vermindert.

Schritt 3: Technischer Widerspruch


Formulierung des technischen Widerspruchs:

Technischer Widerspruch (TW1)Invertierter technischer Widerspruch (TW2)
WENNder Dichtspalt klein wird,der Dichtspalt groß wird,
DANNsteigt die Dichtheitsteigt die Reduzierung der Reibung
ABERdie Reduzierung der Reibung sinktdie Dichtheit sinkt.
Technischer Widerspruch und invertierter technischer Widerspruch

Schritt 4: Ideales Endresultat


Für die Formulierung des Idealen Endresultats wird eine unbekannte Komponente, das sogenannte X-Element eingeführt. Das X-Element soll im Operativen Raum (OR) und innerhalb der Operativen Zeit (OZ) den unerwünschten Effekt beseitigen oder konkrete Eigenschaften ermöglichen, ohne die nützliche Wirkung (Funktion) zu behindern.

Formulierung des Idealen Endresultats für den Technischen Widerspruch

Im Operativen Raum und innerhalb der Operativen Zeit beseitigt das X-Element den unerwünschten Effekt im Konfliktpaar ohne die nützliche Wirkung im Konfliktpaar zu verhindern, ohne das Technische System komplizierter zu machen und ohne schädliche Einwirkungen.

Für das Dichtungssystem lautet das Ideale Endresultat

Im Operativen Raum und innerhalb der Operativen Zeit

  • beseitigt das X-Element die Reibung (unerwünschter Effekt) im Konfliktpaar (Dichtlippe – Innenring)
  • ohne die Dichtheit (nützliche Wirkung) im Konfliktpaar zu verhindern bzw. zu verschlechtern und
  • ohne das Technische System komplizierter zu machen.

Schritt 5: Physikalischer Widerspruch


Die Verbindung oben sagt: Wir verlangen einen großen Dichtspalt, weil wir ein niedriges Reibmoment wollen.
Die Verbindung unten sagt: Wir verlangen einen kleinen Dichtspalt, weil wir eine hohe Dichtheit wollen.

Formulierung des Physikalischen Widerspruchs

Der Dichtspalt soll groß sein, damit das Reibmoment niedrig werden kann und gleichzeitig soll der Dichtspalt klein sein, damit eine hohe Dichtheit erreicht werden kann.

Schritt 6: Lösungssuche


Lösen des Physikalischen Widerspruchs mit den Separationsprinzipien und den zugehörigen innovativen Prinzipien

Separation

1. Separation im Raum

Eine Separation im Raum bedeutet räumliche Trennung von widersprüchlichen Eigenschaften im System oder in der Umgebung und kann durch folgende Maßnahmen erfolgen:

1.1 Räumliche Trennung von widersprüchlichen Eigenschaften in verschiedenen Ebenen: Die Axiallippe kann in mehrere Teilaxiallippen aufgeteilt werden. Zwischen den Axiallippen sind kleine Fetträume eingebaut, welche für die ausreichende Schmierung des Systems sorgen.
1.2 Räumliche Trennung in verschiedenen Richtungen
1.3 Räumliche Trennung durch Anwendung von zwei und dreidimensionalen Strukturen
1.4 Räumliche Trennung durch Ausnutzung oder Schaffung von Leerräumen im Objekt
1.5 Räumliche Trennung durch Ausnutzung der Außenoberfläche von Objekten
1.6 Räumliche Trennung durch Ausnutzung der Rückseite oder Innenseite von Objekten
1.7 Räumliche Trennung durch Integration und Verschachtelung von mehreren Objekten
1.8 Dynamische Trennung im Raum – d.h. in der Bewegung, z.B. durch Fliehkräfte

Innovationsprinzipien 1; 2; 3; 7; 4; 13

IP 13 Inversion (Funktionsumkehr)
  • Statt der Wirkung, die durch die Bedingungen der Aufgabe vorgeschrieben wird, ist die umgekehrte Wirkung zu erzielen.
  • Der bewegliche Teil des Objekts oder des umgehenden Mediums ist unbeweglich und der unbewegliche ist beweglich zu machen.
  • Das Objekt ist „auf den Kopf“ zu stellen, ist umzukehren bzw. zu invertieren.
  • Der Prozess oder seine einzelnen Phasen sind umzukehren oder in einer anderen Reihenfolge auszuführen.

Erweiterung der Labyrinth-Dichtung durch Bürsten und Umkehrung der Dichtwirkung. Die Bürsten verhindern das Eindringen von Schmutzpartikeln. Durchlässigkeit sinkt durch kleiner werdenden Borstenabstand zur Fettlippe (Dichtstelle) hin.

Effekte der Fliehkräfte wird durch die Borsten verstärkt und erleichtert das Austragen der in den Bürsten gefangenen Schmutzpartikel. Dynamisches Anpressen der Bürsten durch die Drehgeschwindigkeit.

IP 3 Örtliche Qualität

  • Von der homogenen Struktur des Objekts oder des umgebenden Mediums (des äußeren Einflusses) ist zu einer inhomogenen Struktur überzugehen.
  • Die verschiedenen Teile des Objekts sollen unterschiedliche Funktionen erfüllen.

Verzahnung zwischen Axiallippe und Laufringblech. Wirkung ähnlich einer Labyrinthdichtung. Geringere Anpresskraft notwendig. Geringere Reibung.

Separation in der Zeit

Eine Separation von widersprüchlichen Eigenschaften in der Zeit kann durch folgende Maßnahmen erfolgen:

2.1 Zeitliche Trennung von widersprüchlichen Eigenschaften in zwei oder mehreren Phasen bzw. Zeiträumen: In die Radiallippe ist eine kreisförmige Metallrosette integriert. Diese wird bestromt und erzeugt ein elektromagnetisches Feld. Dadurch kann die Anpresskraft entsprechend der jeweiligen Anforderungen gesteuert werden. Die Form erzeugt ein welliges Anpressen und reduziert dadurch zusätzlich die Reibung.
2.2 Periodische Änderung von widersprüchlichen Eigenschaften: sie sollen abwechselnd wirken; Frequenzen unterschiedlicher Wirkungen sind gegenseitig abzustimmen.
2.3 Ausnutzung des Zeitraums vor dem Prozess, z.B. eine der widersprüchlichen Eigenschaften wird im Voraus ganz oder teilweise ausgeführt.
2.4 Ausnutzung oder Schaffung von Pausen
2.5 Ausnutzung des Zeitraums nach dem Prozess
2.6 Zeitabhängige oder periodische Änderung von Eigenschaften nicht nur im System sondern auch im Obersystem oder in der Umgebung berücksichtigen.

Innovationsprinzipien 15; 34; 10; 9; 11

IP 10 Vorherige Wirkung
  • Die erforderliche Wirkung ist vorher zu erzielen – vollständig oder auch teilweise
  • Die Objekte sind vorher so aufzustellen bzw. einzusetzen, dass sie ohne Zeitverlust vom geeignetsten Ort aus wirken können.

Nach a.) ist die Dichtwirkung vorher zu erzielen, durch eine Verlängerung des Labyrinths und durch eine Doppellippe bei der Axialdichtung.

Die Radiallippe entfällt.

IP 15 Dynamisierung
  • Die Kennwerte des Objekts oder des umgebenden Mediums werden automatisch derartig angepasst, dass sie in jeder Arbeitsetappe optimal sind.
  • Das Objekt ist in Teile zu zerlegen, die zueinander beweglich oder verstellbar sind.

Versteifungsblech mit integriertem Filzring, der Filzring funktioniert als Abstreifer und verhindert den Schmutzeintritt.

Die Radiallippe ist als Doppellippe ausgeführt. Im Laufringblech ist ein kreisförmiges Piezoelement integriert, so dass der Anpress-druck dynamisiert wird.

Separation in der Struktur des Systems

Eine Separation von widersprüchlichen Eigenschaften in der Struktur des Systems kann durch folgende Maßnahmen erfolgen:

3.1 Separation innerhalb des Gesamtsystems und seiner Teile, z.B. das Gesamtsystem hat eine bestimmte Eigenschaft und seine Einzelkomponenten weisen die Anti – Eigenschaft auf.
3.2 Separation durch Bedingungswechsel, z.B.: Teile des Systems bzw. Untersysteme haben unterschiedliche Eigenschaften bei unterschiedlichen Arbeitsbedingungen.
3.3 Abtrennung oder Übertragung einer widersprüchlichen Eigenschaft in die Umgebung, auf andere Systeme oder ins Obersystem.
3.4 Separation von widersprüchlichen Eigenschaften durch Übergang auf die Mikroebene, z.B. Ausführung der Systemfunktionen durch Wechselwirkung eines Feldes mit der Mikrostruktur eines Objektes (siehe auch Standard 3.2.1).

Innovationsprinzipien 40; 31; 32; 3; 19; 17

Separation durch Phasenübergänge

Eine Separation von widersprüchlichen Eigenschaften durch Phasenübergänge kann durch folgende Maßnahmen erfolgen:

4.1 Änderung des Aggregatzustandes eines Teils des Systems oder der Umgebung in Abhängigkeit vom Arbeitszustand des Systems (siehe auch Standards 5.3.1 – 5.3.2).
4.2 Ausnutzung von physikalischen Begleiterscheinungen der Phasenübergänge im System oder in der Umgebung, wie z. B. Dichte- bzw. Volumenveränderung, Entwicklung oder Absorption von Energie/Wärme, Entmagnetisierung usw. (s. Standard 5.3.3).
4.3 Anwendung von Zwei-Phasen Systemen im technischen System selbst oder in der Umgebung, die gleichzeitig aus Komponenten in zwei unterschiedlichen Aggregatzuständen bestehen (s. Standards 5.3.4 – 5.3.5).
4.4 Anwendung von physikalisch-chemischen Übergängen, wie z.B. Oxidierung – Reduzierung, Assoziation – Dissoziation, Zerfall – Fusion, Ionisation – Rekombination, Assimilation – Dissimilation usw. (s. Standards 5.5.1 – 5.5.3).

Innovationsprinzipien 1; 5; 33; 12
Befriedung
Innovationsprinzipien 36; 37; 28; 35; 38; 39
Umgehung
Innovationsprinzipien 25; 6; 13

IP 6 Universalität
  • Das Objekt erfüllt mehrere unterschiedliche Funktionen, wodurch weitere Objekte überflüssig werden.
  • Unnötige Objekte oder Funktionen sind wegzulassen.

Optimierter Eingangsspalt durch Verlängerung des Versteifungsblechs (Labyrinthdichtung)

Entfernen der Axiallippe

Schritt 7: Lösungskontrolle und -auswahl


Lösungskontrolle und die Auswahl geeigneter Lösungen wird in einem agileTRIZ für schwierigere Probleme – Lösungskontrolle und -auswahl besprochen.


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Dr. Bruno Scherb

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