agileTRIZ für komplexere Probleme


In einem vorherigen Beitrag haben wir das agileTRIZ-Vorgehen für einfachere Probleme besprochen. Heute wollen wir uns das agileTRIZ-Vorgehen für komplexere Probleme erarbeiten.

Es stellen sich zunächst die Fragen: „Was sind komplexere Probleme?“ Wie erkennt man „komplexere Probleme?“
➔ „Komplexere Probleme“ sind dadurch gekennzeichnet, dass keine klar umrissene Ausgangslage vorliegt.

Das Vorgehen erfolgt in 5 Schritten:

  1. Ausgangslage: Klärung der Ausgangslage, der Problemstellung und der Zielsetzung.
  2. Systemanalyse: Definition der einzelnen Systemkomponenten und Analyse ihrer Funktionen und Eigenschaften
  3. Suchfeld und Problemstellung: Abgrenzung des Suchfeldes für zulässige Lösungen und finale Formulierung der Problemstellung
  4. Technischer Widerspruch: Formulierung des technischen Widerspruchs
  5. Lösungssuche: Nutzung der Innovationsprinzipien der Widerspruchsmatrix

An einem konkreten Beispiel wird nun das Vorgehen besprochen:

Schritt 1: Ausgangslage


Klärung der Ausgangslage, der Problemstellung und der Zielsetzung.

Ausgangssituation

Die Leistungsanforderungen (Dichtfunktion) für Radlagerdichtungen steigen. Aktuelle Dichtungen können die neuen Anforderungen nicht erfüllen. Die Systemgrenze ist offen, Anpassungen am Radlager sind zulässig.

Problemstellung

Die Anforderungen an das Dichtsystem darf nicht verschlechtert werden. Die Anforderungen an die Dichtungsreibung steigen und es sind deutliche Reduzierungen der Reibleistung zu ermöglichen.

Zielsetzung

Entwickeln von Dichtungskonzepten, die den Leistungsanforderungen gerecht werden können.

Komponenten System

  1. Encoder
  2. Laufringblech
  3. Axiallippe
  4. Radiallippe
  5. Schutzlippe
  6. Versteifungsblech
  7. Gummierter Dichtsitz
  8. Fett

Komponenten Super-System

  1. Außenring
  2. Innenring

Schritt 2: Systemanalyse


Definition der einzelnen Systemkomponenten und Analyse ihrer Funktionen und Eigenschaften.

SystemkomponentePositive (nützliche) Funktionen und EigenschaftenNegative (schädliche) Funktionen und Eigenschaften
Laufringblech(+) stützt Encoder(-) benötigt Bauraum
Axiallippe(+) dichtet ab(-) reibt gegen Laufringblech
Radiallippe(+) dichtet ab(-) reibt gegen Laufringblech
Schutzlippe(+) schützt(-) reibt gegen Innenring
Membrane(+) erzeugt Anpresskraft(-) erzeugt Reibungserhöhung
Versteifungsblech(+) stützt Dichtlippen(-) benötigt Bauraum
Gummierter Dichtsitz(+) schützt(-) benötigt Bauraum
Fett(+) schützt vor Schmutzeintritt(-) erzeugt Reibung

Schritt 3: Suchfeld und Problemstellung


Abgrenzung des Suchfeldes für zulässige Lösungen und finale Formulierung der Problemstellung.

SystemSuchfeld für zulässige Lösungen
DichtsystemNeuartiges Dichtsystem mit gleicher Dichtwirkung und verminderter Reibung

Formulierung der Problemstellung: Konzipieren eines neuartigen Dichtsystems für Radlager, welches

  • die Dichtwirkung des bestehenden Systems erhält und
  • die Reibung deutlich vermindert.

Schritt 4: Technischer Widerspruch


Formulierung des technischen Widerspruchs:

A) Technischer Widerspruch und invertierter technischer Widerspruch

Technischer Widerspruch (TW1)Invertierter technischer Widerspruch (TW2)
WENNdie Anpresskraft der Dichtlippe klein wird,die Anpresskraft der Dichtlippe groß wird,
DANNsteigt die Reduzierung der Reibungsteigt Dichtwirkung
ABERdie Dichtwirkung sinkt.die Reduzierung der Reibung sinkt.

B) Zu bearbeitender Technischer Widerspruch TW1 und Identifikation der konkreten Parameter

WENN die Anpresskraft der Dichtlippe klein wird,
DANN steigt die Reduzierung der Reibung (Zu verbessernder Parameter)
ABER die Dichtwirkung sinkt. (Zu verschlechternder Parameter)

C) Umwandlung der konkreten Parameter in abstrakte Parameter

Für den zu verbessernden konkreten Parameter „Reduzierung der Reibung“ kann der abstrakte Parameter „Energieverbrauch eines bewegten Objekts“ gewählt werden. Für den sich verschlechternden konkreten Parameter „Dichtwirkung“ kann der abstrakte Parameter „Effizienz der Funktion“ gewählt werden.

Der Widerspruch als Blasenmodell kann wie folgt dargestellt werden:

Blasenmodell des Technischen Widerspruchs TW1

Aus der Widerspruchsmatrix können im Schnittpunkt der abstrakten Parameter die Innovationsprinzipien 2; 13; 28; 12; 10; 15; 3 und 6 für die Lösungssuche gewählt werden.

Schritt 5: Lösungssuche


Nutzung der Innovationsprinzipien der Widerspruchsmatrix. Mit den Innovationsprinzipien werden nachfolgend Lösungen gesucht.

2 Abtrennung
13 Inversion (Funktionsumkehr)
28 Ersetzen des mechanischen Systems
12 Äquipotentialität

10 Vorherige Wirkung
15 Dynamisierung
3 Örtliche Qualität
6 Universalität

2 Abtrennung

  • Vom Objekt ist der „störende“ Teil (Eigenschaft, Funktion) abzutrennen.
  • Oder umgekehrt, vom Objekt ist der einzige notwendige Teil (Eigenschaft, Funktion) abzutrennen.

– Axiallippe ist durch eine Labyrinth-Dichtung zu ersetzen

13 Inversion (Funktionsumkehr)

  • Statt der Wirkung, die durch die Bedingungen der Aufgabe vorgeschrieben wird, ist die umgekehrte Wirkung zu erzielen.
  • Der bewegliche Teil des Objekts oder des umgehenden Mediums ist unbeweglich und der unbewegliche ist beweglich zu machen.
  • Das Objekt ist „auf den Kopf“ zu stellen, ist umzukehren bzw. zu invertieren.
  • Der Prozess oder seine einzelnen Phasen sind umzukehren oder in einer anderen Reihenfolge auszuführen.

– Erweiterung der Labyrinth-Dichtung durch Bürsten und Umkehrung der Dichtwirkung
– Bürsten verhindern das Eindringen von Schmutzpartikeln
– Durchlässigkeit sinkt durch kleiner werdenden Borstenabstand zur Fettlippe (Dichtstelle) hin.
– Effekt der Fliehkräfte wird durch die Borsten verstärkt
– Erleichtert das Austragen der in den Bürsten gefangenen Schmutzpartikel
– Dynamisches Anpressen der Bürsten durch die Drehgeschwindigkeit

28 Ersetzen des mechanischen Systems

  • Das mechanische System ist durch ein optisches, akustisches oder geruchsaktives System zu ersetzen.
  • Elektrische, magnetische bzw. elektromagnetische Felder sind für eine Wechselwirkung mit dem Objekt auszunutzen.

In die Radiallippe ist eine kreisförmige Metallrosette integriert. Diese wird bestromt und erzeugt ein elektromagnetisches Feld. Dadurch kann die Anpresskraft entsprechend Der jeweiligen Anforderungen gesteuert werden. Die Form erzeugt ein welliges Anpressen und reduziert dadurch zusätzlich die Reibung.

10 Vorherige Wirkung

  • Die erforderliche Wirkung ist vorher zu erzielen – vollständig oder auch teilweise.
  • Die Objekte sind vorher so aufzustellen bzw. einzusetzen, dass sie ohne Zeitverlust vom geeignetsten Ort aus wirken können.

Nach a.) ist die Dichtwirkung vorher zu erzielen, durch eine Verlängerung des Labyrinths und durch eine Doppellippe bei der Axialdichtung. Die Radiallippe entfällt.

15 Dynamisierung

  • Die Kennwerte des Objekts oder des umgebenden Mediums werden automatisch derartig angepasst, dass sie in jeder Arbeitsetappe optimal sind.
  • Das Objekt ist in Teile zu zerlegen, die zueinander beweglich oder verstellbar sind.

Versteifungsblech mit integriertem Filzring, der Filzring funktioniert als Abstreifer und verhindert den Schmutzeintritt. Die Radiallippe ist als Doppellippe ausgeführt. Im Laufringblech ist ein kreisförmiges Piezoelement integriert, so dass der Anpressdruck dynamisiert wird.

3 Örtliche Qualität

  • Von der homogenen Struktur des Objekts oder des umgebenden Mediums (des äußeren Einflusses) ist zu einer inhomogenen Struktur überzugehen.
  • Die verschiedenen Teile des Objekts sollen unterschiedliche Funktionen erfüllen.

Verzahnung zwischen Axiallippe und Laufringblech. Wirkung ähnlich einer Labyrinthdichtung. Geringere Anpresskraft notwendig. Geringere Reibung.

6 Universalität

  • Das Objekt erfüllt mehrere unterschiedliche Funktionen, wodurch weitere Objekte überflüssig werden.
  • Unnötige Objekte oder Funktionen sind wegzulassen.

– Optimierter Eingangsspalt durch Verlängerung des Versteifungsblechs (Labyrinthdichtung)
– Entfernen der Axiallippe


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Im nächsten Beitrag wird das Vorgehen agileTRIZ für schwierige Probleme vorgestellt.

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Dr. Bruno Scherb

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