Abstract: Der Beitrag erläutert sowohl die anbieter- als auch die abnehmerseitigen Einschränkungen, welche mit einem im Wesentlichen durch Nachhaltigkeitsberichte der Unternehmen getriebenen Nachhaltigkeitsmanagement einhergehen. Als Lösungsvorschlag wird eine Hierarchie von Aktionsräumen aufgezeigt, welche die Unternehmen von der Produktebene beginnend nacheinander besetzen können, um ihre eigenen Nachhaltigkeitsanstrengungen transparent und ohne „Greenwashing“-Verdacht glaubwürdig zu kommunizieren.
Auditing und Sustainability Reporting ist die Antwort der meisten großen Unternehmen auf die stetig wachsenden Anforderungen der (insbesondere jüngeren) Stakeholder hinsichtlich einer nachhaltigen Geschäftspraxis. So finden sich mittlerweile auf den Websites der meisten (wenn nicht aller) im DAX gelisteten Unternehmen mehr oder weniger umfangreiche Berichte und Dokumentationen, in denen die eigene Nachhaltigkeitsposition dargelegt wird. Oft eingeleitet von einem gut klingenden Statement des CEO oder Vorstandsvorsitzenden, legen diese Berichte jeweils auf dutzenden oder gar hunderten Seiten jährlich dar, wie das Unternehmen insgesamt sich hinsichtlich Nachhaltigkeit entwickelt hat. Kein Unternehmen kann sich heute noch in Bezug auf ein nachhaltiges Wirtschaften eine „Mein Auto fährt auch ohne Wald!“-Mentalität erlauben, und die Unternehmen wissen und akzeptieren das auch. Wenn man sich einmal auf eine gar nicht so lange gedankliche Zeitreise zehn Jahre in die Vergangenheit begibt und vergleicht, dann ist dies allein bereits sicherlich als Fortschritt zu begrüßen.
Nun ergeben sich allerdings zwei neue Probleme. Das erste ist, dass Papier nun einmal geduldig ist und Unternehmen schon lange Übung mit der Disziplin der sogenannten Sonntagsrede haben. So finden wir gar nicht selten blumig formulierte Nachhaltigkeitsberichte mit schönen und hehren Worten zu Nachhaltigkeit von Unternehmen, die andererseits keine faktischen Hemmungen zeigen, Produkte wie beispielweise ein SUV mit 2,5 Tonnen Leergewicht und 600 PS auf den Markt zu werfen. Ich habe hier in einem anderen Blogbeitrag schon einmal das Bibelzitat bemüht: „an ihren Taten sollt ihr sie erkennen“. Nur wer soll denn das leisten, wenn schon teils telefonbuchdicke, zertifizierte und gestempelte Nachhaltigkeitsberichte der Unternehmen keine hinreichende Sicherheit zu vermitteln vermögen. Auch aus der Perspektive der Unternehmen gibt es aber Anlass, „mit der Gesamtsituation unzufrieden“ zu sein. Denn selbstverständlich ist es für die Unternehmen, die es wirklich ernst meinen, und auch davon gibt es mittlerweile eine ganze Menge, gelinde gesagt frustrierend zu beobachten, wie diese Anstrengungen, in die man viel Herzblut, Zeit und nicht zuletzt auch finanzielle Mittel investiert hat, in ihrer effektiven Außenwirkung weitgehend verpuffen. Auch dazu wurde hier im Blog bereits geschrieben.
Das zweite der genannten Probleme besteht auf der Seite der Öffentlichkeit, die von diesen Berichten als Leser angesprochen werden soll, diese in der Mehrzahl aber eben doch weitgehend ignoriert. Da die Ausnahme die Regel bestätigt, soll an dieser Stelle durchaus eingeräumt werden, dass Unternehmen mit einem Top-Nachhaltigkeitsruf wie beispielsweise der unterfränkische Bürobedarfsversender „Memo“ über erfreulich hohe Downloadzahlen ihrer veröffentlichten Nachhaltigkeitsreports berichten. In diesem Fall ist das so, weil das Unternehmen sich bereits seit langer Zeit und so umfassend auf das Thema eingeschworen hat, dass es inzwischen auch genau über die Kunden verfügt, die exakt danach suchen und gerade deshalb mit großem Eifer alles aufnehmen, was aus ihrer Sicht wesentlicher Bestandteil der Angebotsidentität geworden ist. Wenn ich als „normaler“ Kunde aber einfach nur und möglichst gedankenlos ein bestimmtes Produkt kaufen will, sagen wir eine Packung Cornflakes oder ein Paar Schuhe oder eine beliebige andere Commodity, besteht in der Regel auch nicht ansatzweise eine realistische Option, vor diesem Kauf zunächst alle Nachhaltigkeitsberichte aller verfügbaren Anbieter zu studieren, um die Kaufentscheidung auf diesem Kriterium aufzubauen. So fällt das alles heimlich, still und leise unter den Tisch und zwar selbst dann, wenn die Nachhaltigkeit eigentlich ein echtes Anliegen für diesen Kunden wäre. Auch „Fridays-for-Future“-bewegte Demonstranten haben schließlich in ihrer übergroßen Mehrzahl ein Smartphone in der Tasche, üben damit ein energiehungriges Social-Media-Nutzungsverhalten und tragen Sneaker an den Füßen, von denen man im Einzelfall jeweils besser nicht wissen will, wie es denn um deren Nachhaltigkeit bestellt ist.
Mit im Wesentlichen auf Nachhaltigkeitsreports der Unternehmen gestützten Aussagen, extern zertifiziert oder auch nicht, wird es also eher ein schwieriges Unterfangen. Dieselbe Meinung vertritt auch der Harvard-Dozent Ken Tucker in einem Beitrag [1] für das Harvard Business Review (2021). Was aber sollen und können verantwortungsbewusste Menschen in den Unternehmen dann tun? Nun, eigentlich ganz einfach: vielleicht ist ja ein komplexes System wie ein Unternehmen gar nicht unbedingt das erste und zuvörderst zu betrachtende Element in einer Untersuchung der Nachhaltigkeit. Vielleicht kann man es sich, gerade für einen sinnvollen Einstieg in das Thema, viel einfacher machen, indem man die Frage zunächst auf die Produktebene reduziert und dort zu beantworten sucht.
In der Literatur wurden bereits verschiedentlich Hierarchien für Einstufungen zur Nachhaltigkeit vorgeschlagen, beispielsweise von Johnson, Shin & Shim (2019) [2]. Die Autoren zeigen darin eine hierarchisch aufgebaute Struktur, welche über insgesamt 8 Abstraktionsstufen von „Design“ (im Sinne von „konkrete Ausführungsvariante“) über „Produkt“, „System“, „Institution“, „Unternehmen“, „urban“, „national“, „kontinental“ bis zu „global“ reicht. Dies wird im Weiteren vernetzt mit als für die jeweiligen Stufen als geeignet charakterisierten Nachhaltigkeitsmesssystemen wie dem Triple-Bottom-Line (TBL)-Ansatz, der Lebenszyklusanalyse (LCA), der Analyse gemäß ISO 14000 bis hin zur Messgröße der „embodied energy“, also der gesamten für die Produktion eines Produktes aufgewandten Energie. Die Gesamtlogik des Aufsatzes wird hier in Abb. 1 wiedergegeben.
Zunächst ist in dieser Darstellung zu kritisieren, dass hier auf beiden Seiten der Aufstellung ein wenig Äpfel mit Birnen verglichen werden (z.B. geographische vs. organisatorische Einheiten). Außerdem sind manche der als „Nachhaltigkeits-Messsystem“ aufgeführten Konzepte eigentlich aus einem anderen Zusammenhang entlehnt (ISO 14000) oder aber ein wenig aus der Aktualität gekommen (TBL). Davon abgesehen scheint diese Aufstellung für die konkrete Praxis eines Unternehmens auch insgesamt keine ausreichende Vereinfachung zu versprechen. Vielmehr wird über die verschiedenen hierarchischen Stufen sogar eine deutliche Komplexitätssteigerung eintreten, die zudem über die verschiedenartigen Messsysteme schwierig bis gar nicht mehr handhabbar sein dürfte, um dem Unternehmenspraktiker eine wirkliche Hilfestellung zu versprechen.
In einem eigenen Ansatz wurde daher eine nochmals vereinfachte Darstellung über ein Verständnis verschiedener Aktionsräume entwickelt, welche dem Unternehmen grundsätzlich offenstehen. Dies wird in Abb. 2 dargestellt. Einem Unternehmen stehen dabei grundsätzlich sämtliche Konkretisierungsebenen als mögliche Handlungsfelder für eigene Nachhaltigkeitsanstrengungen offen. Es kann aber sicher davon ausgegangen werden, dass Aktionen auf höheren Abstraktionsgraden erst dann wirklich glaubwürdig und sinnvoll kommunizierbar werden, wenn diese zuvor durch (ebenfalls kommunizierte) Maßnahmen größerer Konkretisierung unterfüttert wurden. Insoweit kann Nachhaltigkeit ein wenig wie Fußball aufgefasst werden: Als Einsteiger fängt man stets in einer unteren Liga an, um sich dann erst stufenweise in die Bundesliga oder Champions League hinaufzudienen.
Was bedeutet dies nun für den Praktiker im Unternehmen? Gemäß dieser Struktur wird deutlich, dass ein erster Einstieg in eine Nachhaltigkeitsbetrachtung stets über ein oder mehrere der von dem Unternehmen hergestellten Produkte erfolgen sollte. Auf dieser Ebene steht ausreichend gut erprobte Systematik zur Verfügung, beispielsweise nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip, um hier erste sinnvolle Antworten zu geben. Im oben erwähnten Beispiel des SUV-Herstellers wird klar, dass so lange die „Hausaufgaben“ auf dieser Ebene nicht gemacht sind, kein sinnvoller Aufstieg in höhere Abstraktionsebenen empfohlen werden kann. Vielmehr werden sich solche Unternehmen ohne die genannten „Hausaufgaben“ völlig zu Recht mit dem Vorwurf des „Greenwashings“ konfrontiert sehen. Allerdings dürfte es für die Unternehmen auch kaum handhabbar sein, zunächst sämtliche Potenziale eines Handlungsraums zu heben, bevor man sich auf die nächsthöhere Dimension begibt. Ein pragmatischer Vorschlag könnte auch hier die Anwendung des vielfältig bekannten Pareto-Prinzips darstellen, indem auf einer bestimmten Ebene die 80% Umsetzungspotenziale adressiert werden, die mit einem möglichst geringen Umsetzungsaufwand (20%) verbunden sind, während es in der Regel wenig sinnvoll sein dürfte, bei der Behandlung der verbleibenden 20% Potenziale den Umsetzungsaufwand ausufern zu lassen.
Wenn die Ebene des Produkts oder der mehreren von einem Unternehmensbereich oder eines Managers verantworteten Produkte solcherweise sinnvoll und vernünftig optimiert wurde, erschließt sich als nächste Ebene der Betrieb bzw. das Unternehmen, welches diese Produkte herstellt. Hier fließen über die direkt produktbezogenen (Scope-1) [3] Emissionen und Rohstoffeinsätze auch im direkten Verantwortungsbereich des Herstellers befindlichen (Scope-2) Emissionen ein, beispielsweise in Form von allgemeinen Energieeinsätzen für Hallenheizung oder eigener Logistikaufwendungen, sofern nicht beispielsweise per Maschinensätzen direkt dem Produkt zuordenbar. Hier wird man sich also beispielsweise mit Fragen beschäftigen, ob das Dach der Fertigungshalle nicht vielleicht ein geeigneter Standort für eine Photovoltaikanlage sein könnte, oder wie es an einem bestimmten Fertigungsstandort mit Ausbildungs- und Übernahmeangeboten für die lokale Bevölkerung aussieht. Zu dieser Betrachtung gehören weiterhin die nicht im direkten Einfluss des Unternehmens befindlichen Scope-3-Emissionen, beispielsweise für den Betrieb der Kraftfahrzeuge, mit denen die Beschäftigten ihren individuellen Arbeitsweg bestreiten. Diese Scope-3-Emissionen sind für die meisten Unternehmen allerdings schwierig bis gar nicht zuverlässig zu erfassen, weshalb sie in vielen Fällen unter den Tisch fallen. Dabei können diese gemäß der in [1] genannten Quelle im Einzelfall durchaus sogar den weit überwiegenden Teil der Gesamtemissionen verursachen.
Als nächstfolgende Ebene rückt sodann die eigentliche Produktanwendung im Feld und über die gesamte Produktlebenszeit in den Fokus. Bei diesem von den meisten Unternehmen klassischerweise außer Betracht gelassenen Aspekt wird die konkrete Produktsphäre vollständig verlassen und vielmehr der mit dem Produkteinsatz erzielbare Kundennutzen analysiert, um auf dieser Ebene möglicherweise vorteilhafte Verbesserungspotenziale aufzudecken. Diese können dann entweder wieder auf die Produktebene selbst zurückgeführt werden, wie im Beispiel einer im Alltagsbetrieb kraftstoffsparenden Beschichtung im Verbrennungsmotor eines PKW, oder auch auf einer Obersystemebene zu Alternativvorschlägen führen, wenn die mit PKW zu absolvierende Reise im eben genannten Beispiel durch Einsatz eines Video-Conferencing-Tools vielleicht annähernd gleichwertig substituiert werden kann.
Dieses Beispiel erschließt auch die noch weitergehenden Dimensionen der gesellschaftlichen oder letztlich sogar globalen Nachhaltigkeit. Wenn ein Unternehmen seine unteren Einflussschichten soweit sinnvoll durchexerziert hat, um bis in diese Sphären vorzustoßen, wird es mit Recht als Vorbild wahrgenommen werden. Vielleicht ist Alphabet (Google) hierfür ein Beispiel. Unternehmen jedoch, die sich von Vornherein mit den (gar nicht unbedingt für sie gedachten) UN-SDG [4] schmücken, mit oder ohne Anwendung des dort verwendeten Farbschemas, ohne zuvor ihren eigenen Vorgarten in Ordnung gebracht zu haben, werden zumindest mittelfristig in ein Kommunikationsproblem laufen.
Mit der hier gezeigten Methodik steht also ein Systemansatz zur Verfügung, bei dessen konsequenter Anwendung Unternehmen von vornherein jede Gefahr eines späteren „Greeenwashing-Vorwurfs“ glaubwürdig abwenden können.
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Quellen
[1] Tucker, Kenneth P.: Overselling Sustainability Reporting; Harvard Business Review Magazine, May-June 2021; abrufbar über https://hbr.org/2021/05/overselling-sustainability-reporting
[2] Johnson, Anthony; Shin, Juhye, Shim, Dongha: Development of Integrated Sustainability Measurement Hierarchy (ISMH) for Sustainable Engineering; J. Korean Soc. Manuf. Technol. Eng. 28:6 (2019)
[3] Greenhouse Gas Protocol, vgl. https://ghgprotocol.org/ oder in redaktionell aufbereiteter Fassung z.B. hier: https://www.umweltpakt.bayern.de/energie_klima/fachwissen/374/klimamanagement
[4] Sustainable Development Goals, vgl. https://sdgs.un.org/goals oder die von der deutschen Bundesregierung auf die nationale Ebene gebrachte Fassung https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/nachhaltigkeitsziele-verstaendlich-erklaert-232174
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