„agileTRIZ“ – für in die Zukunft gerichtete Aufgabenstellungen


In diesem Beitrag wollen wir das agile Arbeiten für in die Zukunft gerichtete Aufgaben besprechen. In der Aufgabe steht nach „Zlotin, Zusman, Thurnes“ die Frage: „Welches Evolutions-Szenario sollte aus einer Zusammenstellung identifizierter möglicher Evolutions-Szenarien ausgewählt werden, um ein „Gewinner“-Szenario zu verfolgen?“ Diese Fragestellung wird im Vorgehen der Directed Evolution (DE) bearbeitet. DE ist eine Methoden- und Werkzeugsammlung zur Unterstützung von Aufgaben, die insbesondere in die Zukunft gerichtet sind. Der Directed Evolution-Prozess besteht aus fünf Phasen:

  1. Vergangenheitsdaten sammeln
  2. Directed Evolution-Diagnose
  3. Ideen-Synthese (Richtungssuche)
  4. Entscheidungsfindung (Richtungsentscheidung)
  5. Evolutionsprozess unterstützen
Darstellung des Directed Evolution-Prozesses nach Zlotin, Zusman, Thurnes

Die Methoden- und Werkzeugsammlung ist sehr umfangreich. Die Auswahl der zielführenden Methoden und Werkzeuge erfordert ein hohes Maß an Erfahrung. Die agile Vorgehensweise zeigt Bild 2. Dabei kann bei den einzelnen Schritten vor- und auch zurückgesprungen werden. Der agile Umgang mit den jeweiligen Methoden und Werkzeugen ist dabei Voraussetzung.

Bild 2: Agiles Vorgehen für in die Zukunft gerichtete Aufgabenstellungen
  1. Gegenwarts-Analyse: Ausgangssituation beschreiben, Problemstellung klären und Zielsetzung definieren
  2. Vergangenheits-Analyse: Daten sammeln für die weiteren Prozessschritte. Förderliche und schädliche Trends in der vergangenen Systemevolution entdecken. Diese werden später mit den generell gültigen Evolutionsmustern und -linien verglichen, um Abweichungen bzw. Störungen zu identifizieren.
  3. Directed Evolution Diagnose: Ermitteln von erfolgreichen und erfolglosen Aspekten der Systemevolution. Ableiten von zukünftigen Gefahren bzw. Systemfehlern und zu lösender Probleme.
  4. Ideen-Synthese: Generieren von Ideen mit deren Hilfe das System die nächste Entwicklungsstufe erreicht.
  5. Entscheidungsfindung: Vorbereitung der Entscheidungen und Treffen der Entscheidungen über die zu realisierende(n) Evolutionsrichtung(en) des betrachteten Systems.
  6. Evolutionsprozess unterstützen: Veränderung der Systemumgebung erkennen. Einen Plan-Ist-Abgleich durchführen und Evolutionsroadmap erstellen.

Durchführung im WS 2017/2018

Es ist verrückt, die Dinge immer gleich zu machen und dabei auf andere Ergebnisse zu hoffen.
– Albert Einstein

Im WS 2017/2018 wurde die nachstehend beschrieben Aufgabe im Zusammenhang mit „Pkw-Radlagern“ bearbeitet. Die Aufgabe bestand darin, abseits von den eingefahrenen Denkmustern, neue Wege zu beschreiten, um in die Zukunft gerichtete Ideen zu generieren. Deshalb sollte mit einer Gruppe nicht vorbelasteter Studenten die Aufgabe bearbeitet werden.

Die nachstehende Beschreibung der Ausgangssituation, die Problemstellung und die Zielsetzung wurden vom Auftraggeber gestellt.

Für die Durchführung wurde das agile Vorgehen gemäß Bild 2 gewählt.

Gegenwarts – Analyse

Ausgangssituation

Die Leistungsanforderungen an Pkw-Radlager steigen enorm. Es ist zum einen die Forderung nach einer CO2-Reduktion aber gleichzeitig steigen auch die Ansprüche an die Dichtheit des Radlagersystems. CO2-Reduktion bedeutet Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs und demzufolge Reduzierung von Reibungsverlusten, die im Wälzlager (Wälz- und Schmierstoffreibung) aber insbesondere durch die berührende Dichtung als Dichtungsreibung entstehen. Der Reibungswiderstand eines Wälzlagers setzt sich aus der Rollreibung, der Gleitreibung, den Planschverlusten und der Dichtungsreibung zusammen.

Die Dichtungsreibung hat im Gesamtsystem den höchsten Anteil an der Reibungsverlustleistung. Aktuelle Dichtungen können die neuen Anforderungen nicht erfüllen.

Die Systemgrenze lassen wir offen, Anpassungen am Radlager sind demzufolge zulässig.

Problemstellung

Die Dichtfunktion darf nicht verschlechtert werden. Die Anforderungen an die Dichtungsreibung steigen und es sind deutliche Reduzierungen der Reibungsverlustleistung zu ermöglichen. Die Verlustleistung im Wälzkontakt, wie auch die Schmierstoffreibung ist ebenfalls zu reduzieren.

Zielsetzung

Entwickeln von neuen Radlagersystemen, welche die Funktionen und die Leistungsanforderungen erfüllen.

Vergangenheits – Analyse

Zuerst wurden die Daten der Entwicklungsstufen gesammelt. Bei der Durchführung der Historienanalyse wurden die Methoden der System- und Fehleranalyse angewendet. In einem vorgelagerten Experten – Workshop wurden die Entwicklungsstufen erarbeitet und es wurden die Mechanismen, die zu den Entwicklungen führten betrachtet und auf ihre Wirkung hin analysiert. Im Einzelnen wurden folgende Arbeitsschritte durchgeführt.

Erkunden der Funktionen

  • von Systemstruktur und Systemfunktionen
  • von Problemen und Widersprüchen im System
  • von Ideen
  • von Märkten, Kunden, Wettbewerbern

Folgende technologische Trendfaktoren wurden ermittelt:

  1. Leistungssteigerung durch Steigerung der Dichtfunktion
    Treiber: Kunde bzw. Markt und Wettbewerber
  2. Optimierung durch Vereinfachung der Montage
    Treiber: Kunde
  3. Kostenreduzierung durch Übertragung von Funktionen auf andere Komponenten
    Treiber: Kunde

Directed Evolution Diagnose

Ermitteln von erfolgreichen und erfolglosen Aspekten der Systemevolution. Ableiten von zukünftigen Gefahren bzw. Systemfehlern und zu lösender Probleme. Die gesammelten Daten wurden in eine / mehrere S-Kurven eingetragen. Dabei wird untersucht, welche Mechanismen bzw. welche förderlichen und schädlichen Trends zu der vergangenen Systemevolution geführt haben. Diese wurden mit den generell gültigen Evolutionsmustern und –linien verglichen, um Abweichungen bzw. Störungen zu identifizieren.

Angewendete Methoden/Werkzeuge:

  • S-Kurven-Analyse
  • Analyse der Evolutionsressourcen,
  • Analyse der Evolutionsmuster und -linien
S-Kurven-Historienanalyse der Radlagerdichtung

Es wurde festgestellt, dass die Entwicklungen dem Trend der Evolution entlang der S-Kurve und dem Trend der zunehmenden Idealität folgen.

Die Analyse zeigte folgende Veränderungen:

1. Steigerung der Dichtfunktion

Übergang zum Zwei – / Drei – Dichtlippensystem bzw. Erhöhung des Anpressdrucks der Dichtlippen

  • Nützliche Wirkung für die Dichtheit
  • Schädliche Wirkung für die Reibungsverluste

Zerlegung von Funktionen; Aus 2 Radialdichtlippen wird 1 Radial- und 1 Axialdichtlippe bzw. 1 Radial- und 2 Axialdichtlippen

  • Nützliche Wirkung für die Reibungsverluste
  • Schädliche Wirkung ist die Erhöhung der Komplexität

2. Vereinfachung der Montage

Übergang zum Kassettensystem; das gesamte Dichtsystem bildet eine Einheit:

  • Nützliche Wirkung: Einfachere Montage beim Kunden.
  • Schädliche Wirkung für die Herstellkosten

3. Reduzierung der Kosten

Reduzieren der Komponenten durch Übertragung von Funktionen auf eine andere
Komponente:

  • Nützliche Wirkung für die Herstellkosten
  • Schädliche Wirkung für die Dichtfunktion

4. Steigerung der Dichtfunktion

Übergang zu einer anderen Dimension, indem anstelle einer berührenden Dichtung eine nicht berührende Dichtung entwickelt wurde.

  • Nützliche Wirkung für die Reduzierung der Reibungsverluste
  • Schädliche Wirkung ist die Erhöhung der Komplexität

Die Evolutionslinie des Trends der zunehmenden Idealität wurde für das Dichtsystem in die Zukunft extrapoliert. Da die nützliche Wirkung „Steigerung der Dichtheit“ durch den Übergang zur Zweilippendichtung bzw. Erhöhung des Anpressdrucks der Dichtlippe gleichzeitig die schädliche Wirkung „Erhöhung der Reibungsverluste“ verursachte, wurde folgender technischer Widerspruch abgeleitet.

Technischer Widerspruch (TW1)Invertierter technischer Widerspruch (TW2)
WENNder Dichtspalt klein wird,der Dichtspalt groß wird,
DANNsteigt die Dichtheit,steigt die Reduzierung der Reibung
ABERdie Reduzierung der Reibung sinktdie Dichtheit sinkt.

Daraus wurde der physikalische Widerspruch entwickelt.

Der Dichtlippenspalt sollte groß sein, damit die Reibungsverlustleistung klein wird und gleichzeitig sollte der Dichtlippenspalt klein (sehr klein bzw. negativ) sein, damit die Dichtheit groß wird.

Das ideale Dichtsystem wurde definiert als ein System, das absolut dicht ist und keine Reibungsverluste erzeugt.

Damit wurde das Ideale Endresultat wie folgt beschrieben:

Im Operativen Raum und innerhalb der Operativen Zeit beseitigt das X-Element die Reibung (unerwünschter Effekt) im Konfliktpaar (Dichtlippe – Gegenlauffläche) ohne die Dichtheit (nützliche Wirkung) im Konfliktpaar zu verhindern bzw. zu verschlechtern und ohne das Technische System komplizierter zu machen.

Ideen – Synthese

Zunächst wurde der extrapolative Ansatz weitergeführt. Die Historienanalyse zeigte die Entwicklungsstufen vom Ein (Mono)- zum Zwei (Bi)-Dichtlippensystem und dann zum Drei (Poly)-Dichtlippensystem und folgte dem Trend in Richtung zunehmender Komplexität.

Technische Systeme folgen diesem Trend und werden dann wieder zum Mono-System mit der Funktionsvielfalt des Poly-Systems. Extrapoliert man diese Evolutionslinie, so erhält man als Idee ein Dichtsystem mit vielen Dichtlippen, die sich nicht berühren und ein Labyrinth bilden.

Extrapolation des S-Kurven-Verlaufs der Radlagerdichtung

Die im Workshop entwickelten Ideen zeigen, die durch Extrapolation des S-Kurven-Verlaufs generierten berührungslosen Konzepte. Dabei werden Ideen für Labyrinthe sowohl im Radial- als auch im Axialteil konzipiert.

Analyse der Evolutionsressourcen

Bei der Analyse der Ressourcen fällt auf, dass Energien, Energiequellen und Informationen verfügbar sind. Auch die zeitliche Betrachtung der Systemfunktion eröffnet neue Sichtweisen auf das System und wirft Fragen auf.

  • Wann muss die Dichtfunktion vorhanden sein?
  • Ist eine Dynamisierung der Dichtung eine Alternative?

Aus diesen Fragestellungen können neue Ideen generiert werden:

Idee 3: Dynamisierte Radiallippe

In die Radiallippe ist eine kreisförmige Metallrosette integriert. Diese wird bestromt und erzeugt ein elektromagnetisches Feld. Dadurch kann die Anpresskraft entsprechend der jeweiligen Anforderungen gesteuert werden. Die Form erzeugt ein welliges Anpressen und reduziert dadurch zusätzlich die Reibung.

Idee 4: Selbsteinstellende Radiallippe

In die Radiallippe ist eine kreisförmige Metallrosette integriert. Die Rosette besteht aus Nitinol, einer Formgedächtnislegierung. Die Rosette öffnet den Dichtspalt unter Temperatur minimal durch seine Formänderung und schließt den Dichtspalt, wenn die Bedingungen eine dichte Funktion erfordern. Eine Steuerung kann auch durch eine Information über den Regensensor erfolgen.

Vorteile: superelastisch; gute mechanischen Eigenschaften; knickfest und flexibel; nicht ferromagnetisch
Nachteil: teuer

Idee 5: Integriertes Piezoelement in Radiallippe

Die Radiallippe ist als Doppellippe ausgeführt. Im Laufringblech ist ein kreisförmiges Piezoelement integriert, so dass der Anpressdruck dynamisiert wird.

Idee 6: Dynamisierte Dichtlippen

In die Radiallippe wie auch in der Axiallippe werden kreisringförmige Metallrosetten integriert. Diese werden bestromt und bewirken in Abhängigkeit der jeweiligen Bedürfnisse ein Abheben bzw. Schließen, oder ein Andrücken der Dichtlippen. Die Funktion wird über Sensoren, z.B. Regen- oder Feuchtesensor gesteuert.

In der weiteren Bearbeitung kann in Abhängigkeit von der Qualität der Ideen zwischen den Arbeitsschritten 3. Directed Evolution Diagnose und 4. Ideen – Synthese in einer agilen Arbeitsweise vor- und zurückgesprungen werden. Dabei werden in der DE – Diagnose die zielführenden Evolutionsressourcen analysiert und es werden unter Einsatz verschiedenen Kreativmethoden weitere Ideen generiert.

Entscheidungsfindung

In der Phase der Entscheidungsfindung werden die zahlreichen Ideen zunächst nach den Kriterien „Kundennuten, Unternehmensnutzen, Aufwand und Funktionssicherheit“ einer Grobbewertung unterzogen (siehe Beitrag hier). Anschließend werden die besten Ideen in die Strategie Matrix von Ansoff eingetragen.

Einordnung der Ideen in die Strategie Matrix von Ansoff

Die besten Ideen wurden dann weiter qualifiziert. Hierfür wurden die Ideensteckbriefe ausgefüllt. Der ausgefüllte Ideensteckbrief zeigt im Bild 6 die Qualifizierung einer Idee.

Ideensteckbrief

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Dr. Bruno Scherb

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